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G e s t a
l t e n u m N i c h t s |
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Reflexionen zum bildhauerischen Werk Wolfgang Ueberhorsts von Hans-Joachim Pieper Philosophie zielt auf Begriffe und allgemeine Erkenntnisse.
Philosophische Kunstinterpretation ist deshalb stets der Gefahr ausgesetzt,
ihr konkretes Objekt aus dem Blick zu verlieren. Dieses grundsätzliche
Problem der Kunstphilosophie lässt sich nicht völlig umgehen. Man kann nur
versuchen, seine Auswirkungen zu begrenzen. Dazu ist es hilfreich, sich von
vornherein klar zu machen, dass es hier zwar um philosophisch-allgemeine
Einsichten geht, jedoch nicht um solche in das Wesen der Bildhauerei oder der
Kunst im Ganzen. In Frage stehen vielmehr die Prinzipien, die Leitideen, mit
denen das bildhauerische Werk Wolfgang Ueberhorsts sich dem Verständnis
erschließt. Die Absicht, Ueberhorsts Skulpturen in ihren charakteristischen
Eigenschaften zu erfassen, führt zwangsläufig dazu, dass nicht die
ausführliche Deutung einzelner Objekte im Vordergrund steht. Doch auch diese
auf Charakteristika zielenden Reflexionen vermögen einen Rückhalt nur durch
permanenten Bezug zu den Objekten, durch exemplarische Verweise und Ansätze
von Einzelinterpretationen zu gewinnen. Darum habe ich mich bemüht. Dennoch
sei ausdrücklich daran erinnert, dass das, was sich hier als theoretische
Erörterung findet, etwas sinnlich Gegenwärtiges, an Ueberhorsts Skulpturen zu
Sehendes und zu Begreifendes nur gedanklich auslegt. Leserinnen und Leser
sind letztlich gefordert, sich durch eigenes Hinsehen und Erfahren
beeindrucken zu lassen und die vorliegenden Ausführungen dadurch zu
bestätigen oder ihnen zu widersprechen. Das prinzipielle Verständnis von Kunst und ästhetischer
Erfahrung, das den Hintergrund der folgenden Analysen bildet, werde ich
eingangs skizzieren. Was die Auseinandersetzung mit Ueberhorsts Werken
betrifft, ist zu sagen, dass sie einen großen Teil des umfangreichen Œuvres
und – so meine Zuversicht – daran auch tatsächlich wesentliche Aspekte
erfasst. Gleichwohl konnten nicht alle Skulpturen gleichermaßen
berücksichtigt werden; in interpretatorischer Hinsicht sind gewiss auch
andere Akzentuierungen möglich. 1. Die „Abgehobenheit“ und „Offenheit“ von Kunst und
ästhetischer Einstellung Kunstwerke manifestieren sich in einem Bereich, der nicht
eindeutig dem Subjektiven oder Objektiven zuzuordnen ist. Während am ästhetischen
Gegenstand – dem von einem Betrachter aufgefassten und auch mit persönlicher
Bedeutung aufgeladenen Objekt – die subjektive Komponente hervortritt, am physikalischen
Ding hingegen allein dessen objektive Eigenschaften vermerkt werden sollen,
ist das Kunstwerk einerseits immer schon der bloßen Materialität enthoben und
auf subjektive Rezeption hin orientiert. Gegenüber deren Beliebigkeit aber
macht es andererseits seine Eigenständigkeit und Eigenbedeutsamkeit geltend, künstlerische
Intentionen, die an der physischen Gegenständlichkeit des Werkes selbst
dokumentiert sind. Vielleicht kommen diese Aspekte der Kunst in keiner anderen
Gattung so zum Tragen wie in der Bildhauerei. Hier hat man es mit physischem
Stoff in handfestem Sinne zu tun; die subjektive Rezeption führt hier
zunächst ganz fundamental zur Konstitution eines räumlichen Gebildes, das
prinzipiell nur in der Synthese unterschiedlichster perspektivischer
„Abschattungen“ gegeben sein kann – ein Umstand, der hier wie bei jedem
Gegenstand äußerer Wahrnehmung die Unabhängigkeit des Objekts gegenüber dem
Betrachter garantiert.[1]
Dichtung und Musik dringen in den Rezipienten ein und vermögen sich erst in
ihm, in seinem Denken und Fühlen zu entfalten und zu voller Existenz zu
gelangen. Auch Gemälde scheinen restlos in die Imagination eines Subjekts
hineingenommen werden zu können. Bei einem Werk der Bildhauerei ist jedoch
jederzeit klar – wie ergriffen und andächtig man auch gestimmt sein mag –,
dass es sich eigenständig außerhalb des Betrachters befindet und nicht in
seinen Betrachtungen aufgeht. Selbst jede Erinnerung trägt in sich diesen
Verweis: Es gibt stets eine Rückseite, die im aktuellen Erinnerungsbild nicht
vergegenwärtigt ist. Eher tritt der Betrachter – in wörtlichem oder
übertragenem Sinne – in eine Skulptur ein, als dass er sie sich einverleiben,
sie restlos verinnerlichen könnte. Wird die ästhetische Einstellung als ein neben theoretischer
und praktisch-moralischer Einstellung genuiner Zustand des Subjekts verstanden,
so lässt sie sich von diesen durch zwei Aspekte grundsätzlich unterscheiden:
durch ihre Abgehobenheit vom realitätsbezogenen Dasein – eine „Einklammerung“
aller auf die wirkliche Welt bezogenen Stellungnahmen und Intentionen[2]
– und durch die im Rahmen dieser Abgehobenheit ermöglichte Offenheit sowohl
für aktuell präsente, wahrnehmbare Gegebenheiten als auch für den gesamten,
Erinnerungen, Kenntnisse, Gefühle umfassenden Assoziationsspielraum des
erlebenden Subjekts. Sollen Werke der Kunst in besonderer Weise dazu geeignet
sein, ästhetische Erlebnisse zu wecken, Betrachter in die ästhetische
Einstellung zu versetzen, dann ist zu vermuten, dass Kunstwerke mit dieser
Einstellungsart strukturell übereinstimmen. Es liegt deshalb nahe, auch sie
mittels der Kategorien der „Abgehobenheit“ und „Offenheit“ zu
charakterisieren. Hinsichtlich traditioneller Kunst ist das Merkmal der
„Abgehobenheit“ leicht an Äußerlichkeiten zu belegen: Rahmen, Sockel, Bühne
sowie ritualisierte Darbietungsformen sicherten den Werken aller Spielarten
der Kunst seit jeher den Status feierlichen Abstands. „Offenheit“ wiederum
ist nur ein anderes Wort für
Vieldeutigkeit, Unbestimmtheit und Interpretationsbedürftigkeit: Attribute,
die mit den Objekten der Kunst immer wieder in Verbindung gebracht worden
sind. Letztendlich aber muss sich die Abgehobenheit des Werks durch seine
internen Beziehungen formieren, und es muss in dieser internen Formierung
selbst auch seine Offenheit angelegt sein: die Zugänglichkeit des Objekts für
verschiedene Betrachterinnen und Betrachter und ihre wechselnden, „stets
veränderliche[n] ‚Lektüren‘“[3]. 2. Ueberhorsts Skulpturen im Überblick: Formelemente und
Werkgruppen Das bildhauerische Werk Wolfgang Ueberhorsts bestätigt die
angesprochenen Grundstrukturen der Kunst nicht nur in vollem Umfang. Ohne
Mühe gewinnen die Momente der Abgehobenheit und Offenheit in der Betrachtung
seiner Skulpturen Differenzierung und konkrete Bedeutung. Transparenz,
Durchsicht und Durchblick, Kommunikation und Dialog, Zusammenspiel,
Korrespondenz, Verflechtung und Umrankung, aber auch Gegensatz,
Auseinandertreten, Abstoßung und Herauswachsen sind nahe liegende Begriffe,
um den inneren Aufbau und den Betrachterbezug seiner Objekte zu beschreiben.
Die Formgebung reicht dabei von schlichten geometrischen Gebilden bis zu
filigranen, an Strichzeichnungen erinnernden Einschnitten; die Objekte
bewegen sich zwischen Figürlichkeit und nicht-gegenständlicher Konkretion.
Ueberhorsts Werke, weder traditionalistisch noch populär‑avantgardistisch,
weder minimalistisch noch postmodern, verkörpern souveräne, wahrhaft
zeitgenössische Kunst, die sich nicht – als Kunst über Kunst – in
Selbstbespiegelung erschöpft, sondern innovative Formgebung aus der
Auseinandersetzung mit einem breiten Spektrum „außerkünstlerischer“ Themen
gewinnt. So sind schon im ersten Hinsehen Deformationen des Menschseins,
Gewalt und Tod, aber auch Liebe, Anmut und Verspieltheit als Arbeitsthemen zu
entdecken. Im Nebeneinander von Eckigem und Rundem, Vertikalem und
Horizontalem, klar Geometrischem und grotesk Verwachsenem hat jede der
Skulpturen ihren expressiven Gehalt: als Gestalt eines allgemeinen
Erlebnischarakters, Verdichtung menschlicher Erfahrung oder Intuition einer
kosmologischen Struktur. Ein Motiv durchzieht dabei Ueberhorsts Arbeit: das
Mit-, Neben- und Gegeneinander von Kultur, Kunst, Technik, kurz: Menschenwerk
auf der einen und Natur auf der anderen Seite. Allerdings ist dies nur der
vordergründige Aspekt seines eigentlichen Themas: des Interaktionismus von
Materie und Geist – dies ist es, was in Ueberhorsts Gestaltungen tatsächlich
zum Ausdruck gelangt. Entstanden ist eine eigene Welt von Formen und Figuren,
die in ihrer Vielfalt den Einfallsreichtum menschlicher Schaffenskraft
belegen und dabei nicht zuletzt die Möglichkeit in Aussicht stellen, dass
sich Kultur und Natur auf dem ihnen gemeinsamen Boden der Welt zu produktiver
Einheit zusammenfinden. Wenn man sich um eine interne Kategorisierung von Ueberhorsts
Werken bemüht, bietet es sich an, sich an den hervorstechenden Formelementen
zu orientieren, die in den Werken häufig wiederkehren. Die figurativen
Aspekte, die es in Ueberhorsts Werk auch gibt, entstehen aus der
Zusammenstellung, dem Aufbau der Objekte. Die Grundelemente sind durchweg
nicht-gegenständlicher Art. In Ueberhorsts vor allem in Eisen und Bronze
gearbeiteten Skulpturen finden sich ausgesprochen weiche, runde, voluminöse
Formen (F 1) neben klaren geometrischen Figuren, wie Dreieck, Rechteck,
Quadrat, Halbkreis, Kegel und Trapez (F 2). Immer wieder begegnen auch –
meist in Gruppen angeordnete – Dornen, rechtwinklig gebogene, dadurch wie
Haken wirkende Flächen sowie schraubenförmig gedrehtes Gestänge: Elemente,
die sich harmonisierenden Betrachtungsversuchen entgegensetzen (F 3). Die
Oberfläche ist vielfach mit Narben und Tropfen versehen, die bisweilen rissig
und abweisend, aber auch belebend, fast dekorativ wirken können (F 4). Jede
Skulptur steht aus sich selbst, auf eigenen „Beinen“ oder einem integrierten
„Sockel“ (F 5). Besonders hervorzuheben sind die unterschiedlichen Formen von
Ausschnitten, mit denen Ueberhorst Ein- und Durchblicke schafft, Transparenz
herstellt und die Kommunikation von Werkteilen untereinander, aber auch der
Werke mit Hintergrund und Umgebung belebt (F 6). Dabei finden sich sowohl
rundliche, auch in der Schnittfläche abgerundete „Löcher“ (F 6a) als auch
feine, wie Strichzeichnungen oder Strahlen anmutende Schnitte (F 6b).
Kennzeichnend für Ueberhorsts Arbeiten sind meist fünf- bis siebeneckige
flächenhafte Ausschnitte, die in der Regel mindestens eine nach außen
gebogene Seite sowie zwei – oft relativ kurze – Seiten aufweisen, die in
überstumpfem Winkel aufeinander treffen. Ich möchte bei diesen Formen, die
nicht nur in Ueberhorsts Skulpturen, sondern auch in eigenständigen Flächenarbeiten
Verwendung finden, von sanften Polygonen sprechen (F 6c). Sie bilden eine
überaus gelungene, spannungsvolle und harmonische Synthese von weicher und
geometrisch strikter Form. Lässt man sich bei der Einteilung von Ueberhorsts Werken von
diesen formalen Grundelementen leiten, ergeben sich drei bis vier große
Gruppen. Im Zentrum stehen die komplexen Objekte (G I), in denen die
genannten Formelemente in lebendigem Mit- und Gegeneinander vorzufinden sind.
Dies gilt etwa für die „Große stehende Figur“, die „Figur mit gestörter
Synapse“ und die Skulptur „Seltsamer Gast“. Eine weitere Gruppe bilden die
von runden, weichen Formen geprägten Objekte (G II), zu denen etwa „Die
Falle“, „Leda“, „Welle“, aber auch die deutlich figurative „Tänzerin“
gehören. Unter den von klaren geometrischen Figuren beherrschten Arbeiten (G
III) lassen sich die ausschließlich aus eckigen Elementen bestehenden Objekte
(G IIIa), wie „Aggressives Sitzen“ und „Klangraumduo“, von solchen
unterscheiden, in denen ein Wechselspiel eckiger mit runden Elementen
stattfindet (G IIIb). Hierzu gehören etwa der „Impulsgeber“, die „Partitur“
und die „Stars“. Was die übrigen angeführten Formelemente, vor allem die
signifikanten Ausschnitte betrifft (vgl. F 6), ist zu beobachten, dass –
sieht man von den komplexen Arbeiten ab – die rundlichen Löcher (F 6a)
erwartungsgemäß vor allem in Arbeiten der Gruppe II anzutreffen sind, während
die „sanften Polygone“ (F 6c) sehr zum Wechselspiel von rund und eckig in den
Objekten der Gruppe IIIb beitragen. Feine, strichartige Schnitte finden sich
in komplexen Stücken, vor allem in der „Großen stehenden Figur“ und in
„Seltsamer Gast“, wie auch die anderen Grundelemente, die Dornen, Haken und
Stangen, zum Formenvokabular vor allem der komplexen Skulpturen gehören. Auch wenn es selbstverständlich sein mag, sei ausdrücklich
erwähnt, dass diese Einteilung weder das gesamte bisherige Werk Ueberhorsts
umfasst noch den einzelnen Objekten in jeder Hinsicht gerecht wird. Etwas aus
der Reihe fällt die Eisen/Bronze-Skulptur „Kaspar Hauser“. Eine
Sonderstellung darf auch die aus bislang 20 Skulpturen bestehende Serie zu
„Don Giovanni“ beanspruchen, obwohl es sich rechtfertigen lässt, sie
insgesamt den komplexen Objekten (G I) zuzuordnen. 3. Zur Funktion der Werktitel Ein weiteres wesentliches Element von Ueberhorsts Arbeit bilden
die Titel. Mit unübersehbarer Lust am Wort hat der Skulpteur den meisten
seiner Werke, wie zum Teil schon genannt, höchst beredte, geradezu poetische
Überschriften gegeben. Neben der „Falle“ gibt es den „Informanten“, die
„Witwe des Seefahrers“ und das „Wesen, das selbst weiß, ob es wahr oder
falsch ist“; das „Aggressive Sitzen“ gesellt sich zur „Figur mit gestörter
Synapse“, und auch Bezeichnungen wie „Leda“, „Mit dem Mund“ oder „Frau um die
Dreißig“ sind geeignet, Assoziationen zu wecken und der Interpretation eine
Richtung vorzugeben. Hatten Titel lange Zeit weitgehend deskriptiven oder
erläuternden Charakter, wurden sie mit zunehmender Entgegenständlichung der
Kunst selbst zum Ort künstlerischen Ausdrucks, sei es, dass sie die Absicht
des Künstlers unterstrichen, nichts anderes zu zeigen, als tatsächlich zu
sehen war (z. B. eine „Komposition mit Rot, Gelb, Blau“; Piet Mondrian), sei
es, dass sie sich als Spielwiese surrealistischer Intuitionen präsentierten
(„Das große orthochromatische Rad, das Liebe macht nach Maß“; Max Ernst) oder
dass sie dem Werk als ironischer, auch provozierender Kommentar beigegeben
wurden, wie Magrittes „Dies ist kein Apfel“ („Ceci n‘est pas une pomme“) oder
Duchamps „L.H.O.O.Q.“[4].
Es häuften sich die Werke „Ohne Titel“, und es folgten solche mit dem Titel
„Mit Titel“ („Avec titre“; Manuel Perez). Für Ueberhorst scheint man eine
Funktion der Titelgebung ausschließen zu können: die bewusste Irreführung.
Aber auch die Funktion bloßer Beschreibung kommt – von der „Tänzerin“ und den
nach Figuren aus „Don Giovanni“ benannten Skulpturen abgesehen – kaum einmal
in Betracht. Auch da, wo eine enge Assoziation zwischen Titel und Objekt
besteht, wie bei „Bombensurfer“ oder „Witwe des Seefahrers“, beweist die
Skulptur ein vom Titel nicht abgedecktes Eigenleben, das sich auch unabhängig
von der Bezeichnung dem Betrachter erschließt. Es melden sich die Härte und Rauigkeit des Materials, die
kantigen, zum Teil scharf abstoßenden Elemente, die sich der Eingängigkeit
des Worts nicht fügen. Sich dieser Form szs. am Titel vorbei nicht nur
betrachtend nähern, sondern sie interpretieren zu wollen – was wiederum in
Worten und Begriffen geschieht – macht schlagartig klar, dass die Welt in
verschiedenen Medien erschlossen werden muss, und das heißt, dass sie sich in
keiner restlos erschließt. Man darf dabei an Heidegger erinnern, der erklärt,
dass alles Sich-zeigen, alle „Entbergung“, auf einem Hintergrund von
Verborgenem statthat, dass Entbergen immer zugleich ein Sich-Verbergen ist[5].
In Heideggers Gedanke klingt das von Husserl als perspektivische Abschattung
bezeichnete Charakteristikum der äußeren Wahrnehmung an. Das Raumding kann
überhaupt nur als solches wahrgenommen werden, wenn und weil an ihm ein
Innen- und Außenhorizont unbestimmter, prinzipiell unendlich weiter
bestimmbarer Perspektiven mitgegeben ist. Sinnliche Wahrnehmung ist per se
von einem Horizont der Unbestimmtheit umgeben und insofern jederzeit offen. Eine Skulptur in der bei Ueberhorst anzutreffenden Weise mit
einem Titel zu versehen heißt, das räumliche Objekt in eine zusätzliche
Dimension zu stellen: die der verbalisierbaren Bedeutung. Es heißt: Selbst
wenn die Synthese sämtlicher in Raum und Zeit vollziehbaren Ansichten des
Objekts möglich, die zur räumlichen Wahrnehmung gehörende Perspektivität
folglich aufgehoben wäre, hätte man das Objekt noch nicht erfasst. Man hätte
dann zwar alles gesehen, aber längst noch nicht alles bzw. eigentlich
überhaupt noch nichts verstanden. Nicht nur die Kunst, sondern die Welt
überhaupt hat einen Horizont geistiger Bedeutung: Das Sichtbare steht im
Unsichtbaren der Idee, und die Idee – das Unsichtbare, das Nichts – bildet im
Sichtbaren den Zusammenhang, den inneren Grund der Konfiguration der Teile. Ist
nun der Titel einer Skulptur seinerseits offen, vielsagend und mehrdeutig, so
findet das Spiel der Perspektiven in Interpretation und Kritik seine
Fortsetzung. Der Titel gibt einen Hinweis zur „Lektüre“ des Objekts, einer
Lektüre jedoch, die im Hin und Her zwischen Titel und Objekt immer nur
vorläufige Ergebnisse produziert. Diese Feststellung gilt gewiss nicht nur für Ueberhorsts
Arbeiten. Sie lenkt jedoch den Blick auf ein Motiv seiner Objekte, das mir
als zentral bedeutsam erscheint. Als ein grundlegendes Formelement von
Ueberhorsts Skulpturen habe ich die verschiedenen Arten von Ausschnitten
angeführt (F 6). Unter anderem gewähren sie überraschende Durchblicke, machen
auch faszinierende Lichteinfälle möglich. Sie sind – nicht überraschend – ein
wichtiges Mittel der „Offenheit“ dieser Skulpturen: der Offenheit für den
Betrachter, für die Beziehungen zwischen Werk und Umgebung sowie für die
Beziehungen der Werkelemente untereinander. Sie sind aber – und das ist
weniger selbstverständlich – auch ein wichtiges Moment der „Abgehobenheit“,
der inneren Geschlossenheit des Werks, die aus der Formierung seiner Elemente
erwächst. Skulpturen sind Gestalten im Raum, die sich über ihre materielle
Ausdehnung hinaus erstrecken und der Umgebung ihre eigenen Dimensionierungen
mitteilen. Ueberhorst aber gelingt es in seinen Arbeiten darüber hinaus – ich
hebe diesbezüglich hervor: „Die Tänzerin“, „Die Falle“, „Informant“,
„Impulsgeber“ und „Klangraumduo“ –, den Raum in seine Objekte hineinzuziehen,
ihn zu Innenräumen zu verdichten und damit das Medium der Bildhauerei in ihr
selbst „sichtbar“ werden zu lassen. Das Medium, in dem sich etwas vollzieht, ist normalerweise in
dem, was sich in ihm, auf seiner Grundlage entfaltet, nicht thematisch
gegeben. Sehend sind wir auf Dinge, Bewegungen, Farben gerichtet. Das Sehen
selbst, das sehende Subjekt bleibt dabei im Dunkel. Abstrakt gesprochen: Alle
Wahrnehmung, auch alles Bewusstsein, setzt etwas voraus, das selbst nicht
wahrgenommen, nicht bewusst ist. Objekte – und in eminenter Weise trifft dies
auf Kunstwerke zu – erweisen sich so als in zweifachem Sinn von Unbekanntem
umgeben: Unbekannt und unerreichbar ist ihre allseitige, vollständige
Gegebenheit – die Synthese aller ihrer möglichen Erscheinungen liegt im
Unendlichen –, unbekannt bleibt aber auch der Grund, das Medium, in dem das
Objekt erscheint. Die zunächst nur wahrnehmungsphänomenologisch interessante
Beobachtung, dass das Sehen sich nicht selbst beim Sehen zuschaut, lässt sich
ins Ontologisch-Gegenständliche wenden, wenn man bedenkt: Selbst wenn uns die
Welt im Ganzen gegeben wäre, in ihrer vergangenen und künftigen zeitlichen
ebenso wie in ihrer räumlichen Erstreckung, bliebe mit dem vorauszusetzenden
Weltbewusstsein immer noch ein unaufgeklärter, unbekannter Rest. Das zweifache
Dunkel, das die Wahrnehmung notwendigerweise umgibt, ist im Kern das Dunkel,
in das Anfang und Vollendung der Welt gehüllt sind. Nun sind Ueberhorsts Skulpturen nicht etwa allesamt Werke über
Anfang und Ende der Welt. Dass in ihnen ihr eigenes Medium Gestalt annimmt,
führt uns aber genau diese Zweideutigkeit vor Augen: dass alles, was ist, nur
ist vor dem Hintergrund von etwas, das es nicht ist, bzw. das selbst nicht im
selben Sinne ist. Denn auch wenn der Raum in der Skulptur als Innen- oder
Zwischenraum gestaltet wird, die Leere szs. Volumen erhält, bleibt sie doch
die Leere. Wenn man fragt, was die „Tänzerin“ mit ihren Armen umschließt, was
sich in den runden Öffnungen der „Falle“ oder zwischen den aufeinander
zustrebenden Formen im oberen Teil des „Impulsgebers“ befindet, muss man ganz
schlicht sagen: „Nichts.“ Der leere Raum ist das Medium, zugleich ist er das Nichts
der Bildhauerei. Im Vergleich zur Stofflichkeit materiellen Seins sind auch
Bedeutungen und ideelle Zusammenhänge ein Nichts: Unsichtbares,
Nur-Geistiges, nur geistig Erfassbares. Wie im Raum steht die Skulptur im
Horizont geistiger Bezüge, im nicht-sinnlichen Kontext von Bedeutung und
Sinn. Die Titelgebung verkörpert diesen Zusammenhang: Sie lenkt den Blick auf
das Nicht-Sichtbare des Raumes. Der leere Raum empfängt von daher seine
fundamentale, man muss sagen metaphysische Bedeutung. Er ist die Bedingung
dafür, dass es überhaupt etwas, und das Verbindende dessen, was es zu sehen
gibt. Und er „inkorporiert“ dasjenige am Objekt, was sich der Sichtbarkeit
entzieht: seine vollständige sinnliche Präsenz und seine geistige Bedeutung. Die Titelgebung erfüllt so bei Ueberhorst verschiedene
Funktionen: Auf einer ersten, eher oberflächlichen Ebene gibt sie dem
Betrachter eine Orientierungshilfe, einen Anhaltspunkt, um das, was er sieht
und was sich nicht mit bereits begriffenen, mit Begriffen versehenen
Gegenständen deckt, in einer bestimmten Hinsicht zu betrachten (1.). Damit
formuliert sie zugleich ein prinzipielles Statement: Das, was man sieht, ist
nicht alles; die präsentierten Formen aus Eisen und Bronze wollen nicht nur
als Formen, sondern auch als Bedeutungen wahrgenommen werden (2.). Der Titel
gibt jedoch keine Beschreibung des Objekts. Das Kunstwerk führt ihm gegenüber
ein Eigenleben, und der Titel ist häufig selbst interpretationsbedürftig: In
keinem Fall gelangen Titel und Werk zur völligen Deckung. Das Spiel der
Bedeutungssuche aber ist in Gang gesetzt, das Bemühen, Beziehungen,
Einheiten, Korrespondenzen oder Widersprüche zu ermitteln; die Einsicht ist
geweckt, dass es nicht allein auf das Sichtbare ankommt, dass sämtliche
Form-Beziehungen der Materie im Leeren geknüpft werden, dass der leere Raum
demnach genauso bedeutend ist wie die sicht- und berührbare Gestalt (3.). Wenigstens einige der literarischen Werktitel bei Ueberhorst
bewegen sich selbst in der Spannung von Fülle und Leere, Etwas und Nichts:
Der „Kollaps der Märchenmaschine“ wird das Ausbleiben von Märchen nach sich
ziehen, der „Impulsgeber“, auch der „Informant“ haben Leerstellen, Defizite
zu beheben, die „Figur mit gestörter Synapse“ weist auf eine Unterbrechung
hin, das „Wesen, das selbst weiß, ob es wahr oder falsch ist“, schließt sich
gegen Fremddeutung ab. 4. Die leere Mitte In Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ findet
sich eine Stelle, an der Clarisse, eine Jugendfreundin des Titelhelden
Ulrich, ihren Ehering vom Finger gezogen hat und „durch seine Öffnung gegen
die belichtete Wand“ guckt. Dabei sagt sie: „[...] in seiner Mitte ist doch
nichts, und doch sieht er genauso aus, als ob es ihm nur darauf ankäme“.[6]
Diese Stelle kann man ohne Weiteres auf Ueberhorsts Arbeiten übertragen. Für
viele von ihnen gilt: In ihrer Mitte ist doch nichts, und nach den
vorangegangenen Überlegungen sieht es ganz so aus, als ob es ihnen – bzw. dem
Künstler – gerade darauf ankäme. Was es heißt, dass der leere Raum Volumen und Gestalt bekommt,
führt uns die Bronzeskulptur „Schraube“ plastisch vor Augen. Es handelt sich
bei dieser – in Braun-, Grün- und Blautönen patinierten – Figur keineswegs um
eine Schraube, die sich in etwas hineinbohrt. Das Metall wirkt vielmehr
spiralenförmig aufgewickelt, wobei – wie bei einer aufgerollten Zeitung – im
Innern ein Hohlraum entsteht. Exakt in der Mitte des Gebildes hebt sich die
äußere Schicht von der darunter liegenden ab: als ob das Innere sich dehnen,
die Umwickelung aufbrechen wollte. Die äußere und die darunter liegende
Schicht sind zudem seitlich in Form eines sanften Polygons (F 6c)
aufgeschnitten und gewähren Einblick in den Innenraum: aber „in seiner Mitte
ist doch nichts“ – ein Nichts allerdings, das Raum beansprucht. Die „grundierende“ Funktion des Nichts lässt sich auch dadurch
dokumentieren, dass einige der an Ueberhorsts Arbeiten zu findenden
Sockelplatten zum Boden hin offen sind: in Form eines ausgeschnittenen
Halbkreises („Impulsgeber“), eines der charakteristischen Polygone
(„Partitur“) oder auch durch feine, strichartige Schnitte („Figur mit
gestörter Synapse“). Man kommt der Bedeutung dieses Arbeitens mit und um die Leere und
das Nichts einen Schritt näher, wenn man die Arbeiten ins Auge fasst, die in
zwei Teile auseinander treten, die doch im Zwiegespräch verbunden bleiben.
Man findet eine solche Gliederung in ganz unterschiedlichen Skulpturen, wie
in der komplexen Arbeit (G I) „Große stehende Figur“, den rund und weich
anmutenden Bronzen (G II) „Leda“ und „Mit dem Mund“ und dem sowohl in Bronze
als auch in Silber ausgeführten Objekt „Ich bring dich um“ aus dem Zyklus zu
„Don Giovanni“. Die drei letztgenannten Skulpturen sind deutlich erotisch
konnotiert. Dabei stellen diese Arbeiten – die „Falle“ wäre noch
hinzuzunehmen – auf prägnante Weise je einen Grundcharakter des Erotischen
dar: Verführung („Falle“), die Spannung von Erwartung und Hingabe („Leda“),
die Kombination von runder Sanftheit und kantig-aggressiver Penetration („Mit
dem Mund“) sowie den Zusammenhang von Sexus, Gewalt und Tod, der in der
genannten „Don Giovanni“-Skulptur zum Ausdruck kommt. Auch sie sind Gebilde
um eine leere Mitte, die sie umschließen, bewahren oder durchdringen. Was für
diese von der Ambivalenz der Erotik belebten Skulpturen gilt, lässt sich auch
von den meisten anderen Arbeiten sagen. Die Leere, die räumliche Distanz ist
das, in dem und durch das die Werkelemente zueinander in Verbindung treten.
Das vielgestaltige, von unterschiedlichsten Formen geprägte Spiel der Teile
findet im leeren Raum statt. Es sind einzelne Gebilde – eckige und runde
Stangen, Flächen und Körper –, es sind aber auch ganze, horizontal und
vertikal aufgespannte Sphären, die Ueberhorst neben- und übereinander
platziert: Immer bricht zwischen ihnen und bzw. oder in ihrer Mitte das
Nichts auf, der leere Raum – zugleich Medium und Bestandteil, flächig oder
voluminal verdichtetes Formmoment des bildhauerischen Objekts. Ueberhorsts Werk – manches Objekt für sich allein, vor allem
aber sein bisheriges Œuvre im Ganzen – umspannt eine eigene Welt, ebenso
vielfältig und reich an Grobem und Feinem, Einladendem und Bedrohlichem,
Harmonischem, Kontrastierendem und Irritierendem wie die Welt, in der wir
leben. Die tiefe Einsicht aber, die sich in Ueberhorsts Werk auftut, ist die
in die Abgründigkeit der Leere, ist das zur nachvollziehbaren, sinnlichen
Gestalt gewordene Bewusstsein, dass alles in der Welt und die Welt im Ganzen
sich vor dem Hintergrund eines unermesslichen Nichts vollzieht, das Anfang
und Ende von Raum und Zeit in Dunkel hüllt und das in diese Welt hineinragt,
in ihr selbst allgegenwärtig ist. 5. Sein und Nichts – Materie und Sinn Wolfgang Ueberhorst: der Skulpteur des Nihilismus, Botschafter
der Nichtigkeit und Sinnlosigkeit des Seins? Das wäre allerdings ein großes
Missverständnis. Denn die Gruppierung, der Aufbau der Skulpturen um eine
leere Mitte zeigt zwar zum einen diese Leere. Ueberhorst zeigt aber auch und
vor allem, dass die Gestaltung in der Leere funktioniert. Die Welt mag
haltlos im Unbegreiflichen, im Sinnlosen mehr oder weniger Zufälligen
schweben: das ändert nichts daran, dass sie da ist. Und so besitzen auch
Ueberhorsts Skulpturen durchaus ihre Standfestigkeit: durch die zu ihnen
gehörenden, ihnen eine gewisse, wenn auch zum Teil nur „schwebende“ Autonomie
verleihenden Sockelplatten wie durch die Anordnung sich wechselseitig
stützender Elemente. Eisen und Bronze: Trotz der Allgegenwärtigkeit des
Nichts stehen uns diese Metalle, diese an mythologische Zeitalter erinnernden
Stoffe in ihrer ganzen Dichte und Kraft vor Augen. Ueberhorsts Werke bilden
Ballungszentren, in denen leerer und erfüllter Raum zu Ganzheiten geformt
sind, in denen die Leere inmitten der Materie aufbricht – doch von ihr
gestaltet, umrahmt, zu einer eigenen, fast materiellen Präsenz transformiert
– und in denen der vermeintlich undurchdringliche Stoff den Blick frei gibt
auf das Andere seiner selbst. Über die Funktionen der Titelgebung für die Rezeption von
Ueberhorsts Werken wurde schon gesprochen, darüber, dass sie dem Formenspiel
der plastischen Elemente das der Sinnsuche, der auf Bedeutungen zielenden
Interpretation hinzugesellt. Der leere Raum, so wurde gesagt, vermag im
Sehraum das Unsichtbare zu vertreten. Die nicht-sinnliche Sphäre der
Bedeutung kann so im Sinnlichen selbst Raum greifend wirken. Der leere Raum
ist dann nicht mehr einfach nur nichts. Er ist auch nicht nur zur
Quasi-Gegenständlichkeit verdichtet. Er symbolisiert vielmehr den geistigen
Raum, in dem das sinnliche Objekt sich erhebt, die möglichen, sprich denkbaren
Relationen seiner Elemente untereinander ebenso wie die damit zu verbindenden
Bedeutungsgehalte. Die Perspektivität, die der Räumlichkeit des Objekts
anhaftet, wird erweitert um die Vielfalt der Perspektiven möglicher Deutung,
die durch die Vorgaben von Titel und Objekt zwar in ihrer Richtung bestimmt
sind, aber keine endgültige, eindeutige begriffliche „Lösung“ zulassen. Etliche von Ueberhorsts Objekten erfüllen somit die von Kant
formulierte klassische Forderung an eine ästhetische Idee: dass sie „viel zu
denken veranlaßt“, sich jedoch auf keinen bestimmten Gedanken bzw. Begriff
bringen lässt.[7]
Die so verstandene ästhetische Idee unterstützt den Charakter der Abgehobenheit
sowohl der ästhetischen Einstellung als auch des ästhetischen Objekts, die
Herausgehobenheit der ästhetischen Betrachtung aus dem Zusammenhang
realweltlicher Interessen ebenso wie die Herausgehobenheit des Kunstwerks aus
der Welt der Physik, auf deren Bestimmungen es sich nicht reduzieren lässt.
In diesem offen-abgehobenen Wahrnehmungs- und Interpretationsgeschehen
spielt, wie gesagt, der leere Raum, das Nichts, eine zentrale Rolle. Im
Sichtbaren, in der Sinnenwelt ist er die Bedingung für das Miteinander der
materiellen Elemente, zugleich ist er Statthalter des Geistigen. Im Geistigen
ist es gerade die Unbestimmtheit, die den „Möglichkeitssinn“[8]
fundiert. Die Unabschließbarkeit der Deutung bringt ins Bewusstsein, was der
Hintergrund, die Voraussetzung aller Deutung ist: freier, offener, nicht
determinierter Denk-„Raum“, die Leere des noch nicht Bestimmten, nicht
Gedachten. Bei Ueberhorsts Skulpturen, im Miteinander von Objekt und
Titel, ist es nicht selten gerade das sinnlich vor uns stehende, seine eigene
Sprache präsentierende Objekt, das die entwickelten Deutungen unterläuft, das
sich dagegen sträubt, abschließend auf einen Begriff gebracht zu werden. Ist
nicht die „Falle“ als Falle sinnlos, da ihre an eine Baggerschaufel
erinnernden Fangzähne nach außen statt nach innen gerichtet sind? Wie wenig
die „Schraube“ mit einer Schraube tatsächlich zu tun hat, wurde schon
erörtert. Vor allem aber ist es angesichts der komplexen Objekte – sei es die
„Große stehende Figur“, die „Witwe des Seefahrers“ oder der „Informant“ –
völlig aussichtslos, ihre konkrete Gestalt, die einzelnen Formelemente und
ihre Anordnung, in einer begrifflichen Deutung aufheben zu wollen. Mit anderen Worten: Wie es der leere Raum, das materiell nicht
Fixierte des Denkens ist, das dem materiell Präsenten seine Beweglichkeit und
Vieldeutigkeit verleiht, findet umgekehrt das Denken am Materiellen seine Grenze
– gegen beliebiges Spekulieren –, aber auch seine Befreiung – von der
Eindeutigkeit des Begriffs. Ueberhorsts Skulpturen, die zu einem großen Teil
in der Einbeziehung des leeren Raums in das Ausdrucksgefüge der aus Eisen und
Bronze geformten Gestalten bestehen, erweisen sich auch darin als
tiefgreifende Deutung der Welt, dass sie das letztlich unbegriffene Neben-,
Mit- und Gegeneinander von Geist und Materie in zahlreichen Varianten
demonstrieren und reflektieren. Ohne Zögern kann man hier von einem Interagieren
der Bereiche sprechen. Bedient man sich der Drei-Welten-Theorie Karl R.
Poppers, in der eine physikalische
„Welt 1“, eine subjektive, psychologische „Welt 2“ und eine die Erzeugnisse
des menschlichen Geistes umfassende „Welt 3“ (Mythen, Märchen,
wissenschaftliche Theorien, Dichtung, Kunst, Musik) unterschieden werden[9],
so kann man sagen: Ueberhorsts Werke stellen auf verschiedene Weisen eine
Reflexion des Interagierens der drei Welten dar. Da finden sich Eisen,
Bronze, manchmal auch Silber in ihrer eigenständigen, nicht in Sinn
aufzuhebenden Materialität („Welt 1“), ein Titel, der die Dimension
subjektiver Sinnsetzung eröffnet („Welt 2“), und schließlich gehört das Werk
im Ganzen in die Welt der Kunst („Welt 3“). Als plastisches Gebilde, als
Raumobjekt, steht es allerdings insgesamt in der physikalischen Welt (1),
wodurch diese grundlegend modifiziert wird: In der physikalischen Welt selbst
findet sich nun die Offenheit für psychische und geistige Prozesse, für
Kreativität und Ideen. Anders betrachtet: Sofern Ueberhorsts Kunst („Welt 3“)
Weltdeutung ist, zeigt sie auf, dass und wie alle drei genannten Welten ihren
gemeinsamen Boden in der Wirklichkeit haben, in der sie zueinander in
Interaktion stehen. Das ist alles andere als eine monistische Sicht, und es
ist auch kein harmonisches oder harmonisierendes Weltbild, wie nicht zuletzt
die Risse, Narben, Krusten und Dornen belegen, die die Oberflächen von
Ueberhorsts Arbeiten überziehen. 6. Zwischenbemerkung zur Rolle der Musik Im Zusammenhang mit dieser Interaktion der Welten ist meines
Erachtens auch die Bedeutung der Musik zu sehen, die Ueberhorst in einigen
Titeln zum Ausdruck bringt (z. B. „Partitur“ und „Klangraumduo“). Mozarts
„Don Giovanni“ hat er, wie erwähnt, einen eigenen Zyklus gewidmet. Wenn die
bildende Kunst sich bei Ueberhorst als intermedial, in die Bedeutungsebene,
die Poesie hinüberspielend, erweist und wenn dies als Ausdruck seines
Weltverständnisses aufzufassen ist, muss diese Deutung auch für die
Anspielungen auf das Musikalische gelten. Es handelt sich dabei um die
Einbeziehung eines weiteren Mediums, eines weiteren Ausdrucksmittels, in dem
die Welt gedeutet wird. Leere und Gestalt, Materie, (Wort-)Sinn und nun auch
Musik vollziehen sich auf dem Boden der einen Wirklichkeit, deren Innerstes
sich der Betrachtung wie dem Begriff entzieht. Es ist nahe liegend, hier die Ästhetik Schopenhauers ins Spiel
zu bringen, in der die Musik unter allen Künsten ausgezeichnet wird. Als
einzige Kunst soll die Musik nicht als Ausdruck von Ideen, sondern – wie die
Welt selbst – als unmittelbares „Abbild des Willens selbst“ verstanden
werden.[10]
Mit Blick auf Ueberhorst greift diese Auffassung allerdings fehl. In seinen
Werken lassen sich weder für eine Willensmetaphysik noch für die
Sonderstellung der Musik Hinweise finden. Die Assoziation mancher seiner
Skulpturen mit der Welt der Musik ist deshalb wie die Titelgebung insgesamt
zu interpretieren. Sie bringt eine Erweiterung des Sinnlich-Präsenten um eine
zusätzliche Dimension, und auch die Anspielung auf Musik leistet zweierlei,
indem sie einen konkreten Interpretationsansatz benennt und mit dem Klang,
dem Hörbaren etwas evoziert, das im Sichtbaren gerade nicht ist. 7. Interaktionismus von Geist und Materie; Natur und Kultur auf
dem Boden einer Welt Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass es Sichtweisen gibt,
die von Ueberhorsts Kunst ausgeschlossen, geradezu verboten werden: die Reduktion
der Welt in die eine (Materialismus) oder andere Richtung (Idealismus,
Spiritualismus) und die Behauptung eines strikten Dualismus, der Materie und
Denken verbindungslos nebeneinander stehen läßt. Was Ueberhorst zeigt, ist
weder ein reduziertes Bild der Wirklichkeit noch ein strikter, unvermittelter
Gegensatz. Sein Werk stellt ein umfassendes Spektrum von Spiel und Kampf, von
Produktivität und Zerstörung, von phantastischer Vielfalt und Konzentration
(die allerdings nie auf nur ein Element zurückführt) vor Augen. Sichtbares
und Unsichtbares, Materie und Geist werden als Verschiedenes, zugleich
ineinander Verschränktes dargestellt. Die Auseinandersetzung zwischen Intellekt und stofflicher Welt
findet nicht zuletzt im Konflikt zwischen Mensch und Natur, Technik und Natur
ihren Kampfplatz. Ein „Zurück zur Natur“ sucht man bei Ueberhorst vergebens.
Die Wahl des Materials, Titel wie „Impulsgeber“, „Partitur“ oder „Informant“
und auch die Dominanz klarer geometrischer Figuren in der Gestaltung der
Hauptlinien der Objekte lassen keinen Zweifel aufkommen, dass Ueberhorst im
Bewusstsein seiner Zugehörigkeit zur hochtechnisierten westlichen Kultur
produziert. Handwerk, Technik und Konzeption sind in den Skulpturen durchweg
gegenwärtig. Von einem Gegensatz zur Natur ist dabei jedoch auch nicht zu
sprechen. Immer wieder finden sich gewundene Stangen, die wie Zweige aus
streng formalisiert wirkenden Gebilden heraus zu wuchern scheinen. Nicht nur
die menschliche Gestalt, auch insektenartige (z. B. im „Fabeltier“) und
pflanzliche Motive lassen sich in Ueberhorsts Skulpturen entdecken. So gibt
es, wie gesagt, immer wieder Dornen, an Astwerk erinnerndes Gestänge, und hat
nicht das „Wesen das selbst weiß, ob es wahr oder falsch ist“, Ähnlichkeit
mit einem Baumstumpf, erinnert nicht die „Tänzerin“, wie sie sich in
zweifachem Umgreifen in die Höhe streckt, an die Gestalt eines Baums? Auch andere – hier unberücksichtigt gebliebene – Arbeiten
deuten auf Ueberhorsts Auseinandersetzung mit dem Spannungsfeld
„Kultur–Natur“ hin. Ueberhorst greift direkt in das Leben ein, wenn er durch
Wickel und Binden Ahornbäume in ihrem Wachstum formt. Er fotografiert
verweste Tiere, und in seinen neuesten Werken findet Schaffell Verwendung.
Die Arbeit Geäst[11]
führt das Miteinander von Technik und Natur bis an die Grenze: Aus einer
realistisch gebildeten Astgabel wächst ein gedrehtes, ineinander gewundenes
Eisengestänge, das schließlich wieder in „Astwerk“ einmündet. Erst der zweite
Blick zeigt, dass die Astgabelungen aus Bronze bestehen. Im zweiten Blick
wird die vermeintliche Natur selbst als Kultur erkannt – der Gegensatz wird
als künstlicher, als Produkt der Kultur, gezeigt und bleibt dennoch
strukturell bestehen. Es gibt Interaktion, aber keine Identität der Bereiche.
Weiter scheint Ueberhorst nicht gehen zu wollen. Hat man
Gelegenheit, eine größere Anzahl seiner Objekte nebeneinander zu sehen, so
sind der Einfallsreichtum, die Variationsbreite der Formen und ihr Eigenleben
in der Tat verblüffend. Verblüffend ist auch, wie das in der organischen
Welt, der Welt von Pflanzen und Tieren, zu findende Bilden und Gestalten sich
hier – auf völlig anderer Ebene und in völlig anderen Materialien –
fortzusetzen scheint. Unweigerlich fühlt man sich daran erinnert, wie Kant
die künstlerische Schöpferkraft charakterisiert: dass nämlich in ihr „die
Natur der Kunst die Regel gibt“[12].
In Arbeiten wie dem erwähnten, aus Bronze und Eisen
zusammengesetzten Geäst deutet sich etwas wie die Idee einer Versöhnung,
einer friedlichen Synthese an. Doch es bleibt beim Aufblitzen der
Möglichkeit. Ueberhorst liefert keine Verklärung; nur selten findet man
„einfache“, auf wenige Elemente beschränkte Objekte. So wenig wie eine
Weltformel gibt es die Formel, auf die sich seine Werke bringen ließen. So
viel aber lässt sich doch festhalten: Ueberhorst zeigt, wie heterogene, nicht
aufeinander reduzierbare Kräfte sich auf dem Boden einer gemeinsamen
Wirklichkeit zueinander in Beziehung setzen. Im formenden Umgang mit der
Leere des Raums gewinnt dieser gemeinsame Boden Gestalt, eine Gestalt jedoch,
die die Leere zugleich als eines der – auf ihrem Hintergrund –
interagierenden Formmomente ins Spiel bringt. Das in der Tiefe vielleicht
alles Vereinigende – worin Sein und Nichts, Chaos und Ordnung, Materie und
Sinn gleichermaßen gründen – wird in einem Streich hervorgezogen und
versteckt. Das Unergründliche dieser Kunst ist auch das Unergründliche der
Welt. © Hans-Joachim Pieper [1]Vgl. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. Tübingen 1980, S. 73-78 (§§ 41-42). [2]Diese „Einklammerung“ ist vergleichbar der bei Husserl zur Kennzeichnung der phänomenologischen Einstellung eingeführten „epoché“. Vgl. Husserl, a.a.O., S. 53-57 (§§ 31-32). [3]Umberto Eco: Das offene Kunstwerk. Frankfurt am Main 1996, S. 154. [4]„L. H. O. O. Q.“ ergibt laut gelesen „elle a chaud au cul“ („Ihr ist heiß am Arsch“). [5]Vgl. Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerks, in: Ders., Holzwege. Frankfurt am Main 1980, S. 1-72, ebd., S. 39 ff. [6]Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften I. Reinbek bei Hamburg 1988, S. 369. [7]Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, A 191/B 194. [8]Musil, a.a.O., S. 16. [9]Karl R. Popper/John C. Eccles: Das Ich und sein Gehirn. München 1989, S. 36. [10]Vgl. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I. Erster Teilband. Zürcher Ausgabe Band 1. Zürich 1977, S. 324. „Wille“ gilt Schopenhauer als „Ding an sich“, als das innere, wahre Wesen der Welt. [11]Titel vom Verf. eingesetzt. |
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